Carsten Becker
Ästhetik und Norm, von Philipp Hindahl
Ästhetik und Norm
Philipp Hindahl, 2020
Mittels einer Typologie der Alltagsdinge ließe sich ein verborgener Erzählstrang der Moderne nachverfolgen, und zwar anhand von Objekten, die in Haushalten, Betrieben und Industrie einen Platz haben, bis heute. Dinge, deren ästhetischer Wert kaum in den Blick rückt. Deren Existenzberechtigung ihre Zweckmäßigkeit ist. Genormt, liefersicher und von gleichbleibender Qualität. Sie sind Embleme des Industriezeitalters, aber auch Träger von problematischer Geschichte.
Carsten Becker verdichtet die Aspekte von Normierung für seine Serie DIN, in der sich funktionale und ästhetische Belange treffen. Vor allem treffen hier aber zwei Normen aufeinander: Becker lackiert DIN-Objekte in RAL-Farben und fotografiert sie. Sie sind maximal ausgeleuchtet, so dass der matte Lack an Tiefe verliert und die Objekte wenig Licht reflektieren, und nur ein sanfter Objektschatten lässt ihre Plastizität erahnen.
An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die ästhetischen Aspekte von Normen und massenhaft gefertigten Objekten. Denn die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg – aus der die Normen DIN und RAL stammen – war bestimmt von einer Explosion der Avantgarden in Kunst, Gestaltung und Architektur. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Weichen dafür gestellt: mit den russischen Avantgarde-Malern, Adolf Loos’ Verurteilung des Ornaments in Architektur und Gestaltung und mit dem Manifest der italienischen Futuristen, das 1909 publiziert wurde. Erst die Massenproduktion der beginnenden 1920er lieferte das Pendant zu den Technik-Utopien von Künstlern und Architekten.
Le Corbusier war unter den bestimmenden Figuren, die das ästhetische Potential der Standardisierung erkannten, deshalb empfahl er den Architekten den Ingenieur als Vorbild: "Beraten durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet von Berechnungen, versetzt (der Ingenieur) uns in Einklang mit den Gesetzen des Universums. Er erreicht die Harmonie"¹, schrieb Le Corbusier, der einst Paris dem Erdboden gleichmachen wollte, um eine neue, vernünftige Stadt zu errichten, in seinem Traktat Vers une architecture. Die Rationalisierung aller Lebensbereiche erhob er zur transzendenten Menschheitsaufgabe.
Aber: Bei aller Begeisterung fürs technische Objekt klafften ästhetische Vorstellung der Architekten und die Realität der Massenfertigung noch auseinander. Wunsch und Notwendigkeit der Herstellung trafen einander noch nicht, denn die Geschichte der Normierung und Standardisierung war abenteuerlich und voller Interessenkonflikte. Und wer sie zum ästhetischen Prinzip erhob, warf sich nicht selten in die Arme des Faschismus.
Der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti verkündete 1909 im Manifest des Futurismus: "Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus (…)"² , möglicherweise schon ahnend, dass es wenig später tatsächlich einen Krieg geben würde, in dem viele Künstler, Architekten und Gestalter an die Front gingen. Vielleicht lässt sich dieses Statement noch als spielerisch-radikal lesen, später aber wird Marinetti die Faschisten unterstützen. Hier ist in nuce schon Technikfetischismus und Militarismus der totalitären Regime ablesbar. Fast scheint es wie die ästhetische Vorbereitung der kommenden Konflikte.
Das Maschinengewehr, mit dem die deutsche Armee in den Ersten Weltkrieg zog, war das MG 08, eingeführt 1908, und sieben Jahre später zum MG 08/15 weiterentwickelt. Die Teile, die für die Herstellung nötig waren, kamen allerdings nicht von einem einzigen Zulieferer, sondern mussten einheitlich genormt werden. Die Fertigung erforderte Genauigkeit, bis auf Bruchteile von Millimetern. Bald darauf wurden die DIN ins Leben gerufen, die Standards, die vom Normenausschuss der Deutschen Industrie festgelegt werden. 1917 wurde der Normenausschuss für konische Stifte gegründet, im Dezember des selben Jahres wurde die erste Norm für Kegelstifte herausgegeben. Ihr Name: DIN 1. Die Stifte wurden auch bei der Produktion eben jenes Maschinengewehrs eingesetzt.
Damit, könnte man meinen, begann die Geschichte der Normierung für die massenindustrielle Fertigung. Zunächst war aber überhaupt nicht klar, was die Grundlage für diese Normen sein sollte. Daher sammelt der Werkstoffausschuss der DIN erst einmal Vorschriften von Behörden und Großunternehmen. Doch ebensowenig wie die Geschichte der künstlerischen Avantgarden geradlinig und einfach ist, verlief diese Geschichte einfach und konfliktfrei.
Unter den ersten DIN-Normen sind Papiergrößen, so wie sie heute noch gebräuchlich sind, allerdings protestierte in der frühen Weimarer Republik die Papierindustrie fast einstimmig gegen die Vereinheitlichung. Wenig später wurde der Reichsausschuss für Lieferbedingungen gegründet, kurz RAL, unter der Förderung des Reichskuratoriums Wirtschaft, kurz RKW. Da wurde es kompliziert, denn beide Körperschaften waren sich uneins über die Zuständigkeiten. Ungünstig, denn gerade Mitte der 1920er sollten DIN-Normen als Erfolgsmodell auch in die europäischen Nachbarländer exportiert werden. Schließlich aber, 1927, einigten sich RAL und DIN auf ihre jeweiligen Gebiete. Die Geschichte der Normierungen ging in der Zeit des Faschismus weiter, und ab 1940 wurden Standards für Heer, Marine und Luftwaffe in das Normenwerk eingegliedert. Die Kriegsnotwendigkeiten sorgten für eine zusätzliche Vereinheitlichung.
In Beckers Bildern werden die problematischen Verstrickungen im Herzen der Industriemoderne lesbar. So ist der Kugelknopf – DIN 319, ein Bedienelement unter Anderem für Karabiner – in der Farbe Dunkelgelb nach Muster lackiert, die von der Wehrmacht als Tarnfarbe gegen Infrarot-Sichtgeräte entwickelt wurde. Die Flaschenform Vichy 2 ist in Rotbraun abgebildet. Dabei klingt nicht nur das französische Vichyregime an, das mit den Nazis kollaborierte, sondern es ist auch die Farbe zu sehen, in der die Güterwaggons der Reichsbahn gestrichen waren.
In den Fotografien stellt sich ein sonderbarer Effekt ein: Die Proportionen scheinen sich zu verändern, das Medium der Darstellung drängt in den Vordergrund und sorgt für eine Verfremdung, und die Arrangements erinnern an abstrahierte Stillleben. Die Objekte – Flaschen, Griffe, kleine Handräder – und die Farben werden der Sphäre des Gebrauchs enthoben. Die kleinen Dinge mit ihren millimetergenauen Abmessungen wurden einst ganz in der Nähe der künstlerischen Avantgarden geboren. Becker lässt in seinen Arbeiten eine Version der Moderne kristallisieren.
Philipp Hindahl ist Kunsthistoriker und Autor, er lebt in Berlin.
¹ Zitiert nach: Christian Kühn, Stilverzicht. Typologie und CAAD als Werkzeuge einer autonomen Architektur, Braunschweig/Wiesbaden 1998, S. 60.
² Filippo Tommaso Marinetti, "Manifest des Futurismus", in: Le Figaro, Paris 20. Februar 1909.
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