Carsten Becker
Die vergessenen Farben (ungek. Fassung), von P. Hindahl
Gebrauchsgegenstände haben ihre Farben nicht einfach so, sie sind an Standards angeglichen. In Deutschland gilt der RAL-Standard, eine Farbsammlung, die auf Anforderungen von Behörden, Militär und Industrie reagiert. Der Künstler Carsten Becker befasst sich in seiner Arbeit mit den Leerstellen und Kontinuitäten dieser Sammlung. Sie leistet eine mikrokosmische Abbildung deutscher Geschichte.
Vergessene Farben
Phillip Hindahl, Mai 2018
Bäume in Polen, Schnee vor Stalingrad, die Wüste in Nordafrika haben alle ihre eigene Farbe. Ihre Schattierungen und Töne ändern sich nicht, wahrscheinlich auch nicht über Jahrzehnte oder Jahrhunderte, aber das kollektive Gedächtnis der Nachgeborenen erinnert die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs fast ausschließlich in Schwarz-Weiß. Wenn wir Farbaufnahmen aus dem Krieg sehen, stellt sich ein seltsamer Effekt ein. Sie wirken beinahe zu real, als wäre dem Dokument, dem Foto, dem Film etwas hinzugefügt, wie eine unzulässige Steigerung des Realismus. Oft verläuft die gefühlte Grenze zwischen Fiktion und Dokument gerade zwischen Farbe und Graustufen. Es gibt auch die Farben, die verloren oder vergessen sind. Tarnfarben, standardisierte Farben, industriell hergestellte Lacke. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Beinahe ließe sich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand von Farben und Lacken erzählen.
Sobald Gebrauchsobjekte industriell gefertigt werden, also potentiell unendlich, müssen Normen her. Eine der Angstvorstellungen der Moderne ist die Normierung aller Lebensbereiche. Zugleich ist sie ein Versprechen, denn alles soll überall in gleichbleibender Qualität reproduzierbar sein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden sie erstmals festgelegt, und sie gelten teilweise noch heute. Seit 1918 existiert die Deutsche Industrie-Norm (DIN) — Maschinenteile und Papierformate wurden erstmals standardisiert. Die DIN war zunächst nur eine Empfehlung, denn die einheitliche Gestaltung sollte den Wettbewerb fördern.
Normen gab es auch für die Farben, in denen Gebrauchsgüter lackiert, gestrichen und gefärbt wurden. 1925 wurde der Reichsausschuss für Lieferbedingungen gegründet, der Vorliebe jener Zeit für Akronyme folgend kurz RAL genannt. Darin: der Verband Deutscher Farbenfabriken, der Verband Deutscher Lackfabrikanten und der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands, also eine gemeinsame Initiative der Privatwirtschaft und der Regierung.¹ Auch hier Normierung: Der RAL definierte zwei Jahre später vierzig Standardfarben.
RAL ist kein Klassifikationssystem wie der Pantone-Regenbogen, sondern eine Farbsammlung, und sie wird bis heute benutzt. Es sind die Leerstellen, die Carsten Becker in seiner Arbeit faszinieren. Denn kaum etwas ist beredter als das Verschwiegene und Verschwundene. Becker benutzt beispielsweise Panzergrau, Sandgrau und Dunkelgelb, um Triptycha herzustellen. Eingehende Beschäftigung mit den RAL-Farben zeigt auch, dass sich bei vermeintlich gleichen Farbtönen subtile Veränderungen ergeben.
1932 wurde eine aktualisierte Fassung der RAL-Farbsammlung veröffentlicht. Der Farbstandard galt für die Industrie, die Eisenbahn und das Militär. Nicht nur staatliche Körperschaften — wie die Reichsbahn — gehörten zu den Abnehmern der Farbsammlung, sondern auch eine Partei: die NSDAP. Im gleichen Jahr, 1932 also, erscheint das Organisationsbuch der NSDAP.² Das Buch verrät viel über den zwanghaften Ordnungswahn der Nazis. Es beschreibt aber auch die visuelle Identität bis in alle Details: wie die Uniformen, Abzeichen und Flaggen aussahen, wo die Waffe zu tragen war, und wann welche Uniform anzulegen war. Dass die Nazi-Partei unter den Verarbeitern der RAL-Farbsammlung war, überrascht umso weniger, als die „Grundlage politischer Arbeit für Deutschland“ das „Soldatische“ sein sollte. Und neben Farben für zivile Aufgaben machten Tarnfarben bald einen großen Teil der Farbsammlung aus.
Die Idee von Einheitlichkeit ist keine Erfindung der Nazis, passte aber ausgezeichnet in die faschistische Kulturpolitik. Literatur, Kunst, Architektur und Gestaltung wurden einem völkischen Gestaltungsideal unterworfen. Ein Ideal irgendwo zwischen bäuerlicher Einfachheit und soldatischer Disziplin wurde von den Nazis erfunden und zum Leitbild erhoben. Ein erster Schritt war, den Deutschen Werkbund dem „Kampfbund für deutsche Kultur“ zu unterstellen.³ Gleichschaltung: damit sollten alle Lebensbereiche auf eine Linie gebracht werden, privat und öffentlich, industriell und kulturell. Der Kampfbund veranlasste antisemitische Säuberungsaktionen, sorgte dafür, dass das Bauhaus geschlossen wurde, und dass viele Gestalter und Architekten der Moderne ins Exil gingen.⁴ Unter den Nationalsozialisten wurden Normen zur Pflicht, und die Formen und Farben der Gebrauchsgüter wurden politisch.
Beckers Triptycha erzählen eine Geschichte, aber in abstrakter Art: Sie sind monochrome Tafeln von RAL-Farben, meist thematisch verknüpft. Zum Beispiel die Lackierung des Kampfflugzeugs Messerschmitt BF 109: von unten lichtgrau, um gegen den Himmel getarnt zu sein, von oben Grüngrau, um vor dem Boden zu verschwinden. Die Nase des Jagdflugzeugs ist Gelb — die auffällige Farbe dient der Freund-Feind-Erkennung. Diese drei Töne ergeben ein Triptychon. Oder die drei Farben der Reichsbahn. Violett für die Luxuswaggons, Feuerrot für Räder und Rotbraun für die Güterwaggons. RAL 8012, die Lackierung der Güterwagen legt Zeugnis ab von der Shoa, denn in den so lackierten Waggons wurden Menschen in de Konzentrationslager deportiert. Noch heute steht ein solcher Waggon in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Die Geschichte von RAL endete nicht mit dem Zweiten Weltkrieg. Viele Farben wurden umbenannt oder einfach aus der Sammlung gestrichen. Zunächst 1953: beispielsweise RAL 8020, auch bekannt als Sandgelb, Braun oder Gelbbraun, entwickelt für den Feldzug des Afrikakorps der Wehrmacht zwischen Mai 1942 und Mai 1943. Dann, 1961, weitere Streichungen, zum Beispiel RAL 7028 — Dunkelgelb. Die Farbe gab es in drei verschiedenen Varianten und wurde für das Großgerät der Wehrmacht benutzt. Die Entnazifizierung der Nachkriegsjahre sollte auch in der symbolischen Welt der Farbnormen stattfinden.
Die DDR legte 1955 einen eigenen Farbstandard fest. TGL, Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen hieß die Vorgabe in der anderen deutschen Republik fortan. Die verbindliche Regelung war bis zur Normenunion 1990 in Kraft, auch wenn dieser Begriff irreführend ist, denn danach galt RAL für die ganze BRD.
Viele Farben sind eingewoben ins kulturelle Gedächtnis. Das Leitmedium Farbfernsehen archivierte die frühen 1970er, zum Beispiel die Jagd auf die Terroristen der RAF. Als Andreas Baader 1972 in Frankfurt verhaftet wurde, tragen die Polizisten tannengrüne Uniformen. Nachgeborene kennen die Polizei in Minzgrün, ab 2004 wurden Uniformen und Fahrzeuge verkehrsblau (RAL 5017).
Die Tarnanstriche der Bundeswehr heißen Teerschwarz, Lederbraun oder Bronzegrün. Die Farben bekommen Namen, die an eine vorindustrielle Welt erinnern. Die Telefone FeTAp 611 — Fernsprechtischapparate — der Bundespost sind in den 1960ern aus kieselgrauem ABS-Kunststoff. Seit 1986 ist die Deutsche Post ginstergelb. Nur der Name Telemagenta, seit 1992 fest im Design der Telekom, gehört ganz ins beginnende Zeitalter der vernetzten Kommunikation.
Farben zur Tarnung, zur Erkennung, als einheitliches Design: Allein damit lässt sich eine Geschichte über das corporate design des deutschen Faschismus erzählen. Die Geschichte der Bundesrepublik wird von RAL-Farben begleitet. Wie ein Mikrokosmos enthält die Farbsammlung ein Abbild der historischen Ereignisse im Kleinen.
Philipp Hindahl ist Kunsthistoriker und Autor, er lebt in Berlin.
¹ Vgl. Sabine Zentek, Designer im Dritten Reich. Gute Formen sind eine Frage der richtigen Haltung, Dortmund 2009, S. 173.
² Die Reichsorganisation der NSDAP (Hg.), Organisationsbuch der NSDAP, München 1937 (1932), S. 24.
³ Zitiert nach Zentek, S. 39.
⁴ Vgl. ebd., S. 37.
Serie
RAL
Ausstellung
RAL, Frontviews, Berlin, 2018
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