Carsten Becker
Text Kunst und Standards
Kunst und Standards. DIN-Normen und RAL-Farben in Carsten Beckers Werkserie DIN
Anika Reineke und Konstanze Wolter
in: Kunst und Werk: Jahrbuch Technikphilosophie 2022, hrsg. Alexander Friedrich et al., Baden-Baden 2022, S. 157–174.
Abstract
Norm und Kunst scheinen sich auf den ersten Blick auszuschließen, gilt die eine doch als Inbegriff von Struktur und Verlässlichkeit, die andere hingegen als regelloses Schaffen. Die konzeptuelle fotografische Werkserie DIN (2019–2022) des Berliner Künstlers Carsten Becker ist Anlass, die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Normierten in Technik und Gesellschaft zu betrachten und nach dem Einfluss und den Herausforderungen der Normen für die von ihnen betroffenen Menschen zu fragen. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Konstanze Wolter nimmt die Arbeiten Carsten Beckers als Ausgangspunkt für eine Reflexion der Rolle des Normierten in der gegenwärtigen globalen Gesellschaft, nicht nur in industriellen, sondern auch sozialen Zusammenhängen. Dabei geht es insbesondere um die Macht, die diese Regularien entwickeln, sei es im Bereich der Weltwirtschaft, des Internets oder der Biotechnologie. Im Anschluss folgt eine Auswahl von Werken Beckers, die im Februar und März 2022 in der Einzelausstellung Norm in Chemnitz zu sehen waren. Anika Reineke unterzieht im letzten Teil Beckers Serie DIN einer kunsthistorischen Betrachtung. Dabei verortet sie die Arbeiten einerseits in der Geschichte künstlerischer und gestalterischer Auseinandersetzungen mit Wiederholung, Muster und Serialität und untersucht andererseits mit Blick auf Beckers Werk die Verbindung von industrieller Normung mit dem militärischen Bereich seit 1785.
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Auszug
Die unheimliche Schönheit der Effizienz
Anika Reineke
[…]
In DIN stellt Becker Normteile in den Mittelpunkt, die für militärische und wirtschaftliche Zwecke entwickelt wurden. In gerahmten Fotodrucken der Formate 42x59, 59x84 und 84x119 Zentimeter ist beispielsweise der 1924 normierte Keulengriff zu sehen, der als Bedienelement für Maschinen zum Einsatz kam, oder die Steinieform von 1953, als Bierflasche in der Alltagssprache auch ›Bombe‹ genannt. Beckers Objekten ist gemein, dass sie normiert wurden, um als Massenware auf verschiedenen Maschinen von unterschiedlichen Produzenten herstellbar zu sein. Sie alle folgen Normen des 1917 gegründeten DIN.¹ Damals lag die Idee einer Vereinheitlichung der Welt der Dinge in der Luft, wie etwa das 1915 von der Dürerbund-Werkbund-Genossenschaft herausgegebene Deutsche Warenbuch belegt.²
Durch das komplexe technische Verfahren der Makroaufnahme, bekannt für seine gestochene Bildschärfe, lenkt Becker die Blicke der Betrachtenden auf die klare Form der Normteile. Einfachste Erklärung für ihr angenehmes Erscheinungsbild ist die Perfektion der achsensymmetrischen Konturen, so etwa die langgezogene, konvexe Wölbung des Keulengriffs, und die proportionale Komposition der Teile, so etwa im Verhältnis ein zu zwei Drittel bei den Flaschen in Euroform 2 (Olivgrün, Schokoladenbraun).³ Diese Stellvertreter der universellen Form erscheinen bei Becker als Apologeten der Schönheit industrieller Fertigung, als wäre Adolf Loos’ Streitschrift Ornament und Verbrechen (1908)⁴ und Hermann Muthesius’ Vorstellung von der »Norm der Guten Form«⁵ Wahrheit geworden. Mit dem Medium der Fotografie transferiert Becker diese Gebrauchsgegenstände in die Unendlichkeit eines weißen Raums, wie er den Betrachtenden etwa als White Cube der Kunstgalerie bekannt ist.⁶ Auf diese Weise ihrem Gebrauchskontext enthoben, sind die Wölbungen, Schwingungen, Rillen, Linien und Ecken der Objekte nicht zu übersehen. Als industrielle objets trouvés, als Archetypen von Alltagsgegenständen zeigt beispielsweise Vichyform 2 (Rotbraun) die Eleganz der aufstrebenden Form, Einheitsglas (Violett) offenbart ein anmutiges Wechselspiel aus Abrundungen und Kanten. Andere, wie die geschwungene Schwenkscheibe und der glatte Kugelknopf, strahlen in ihrer abstrakten Unkenntlichkeit eine erhabene Ruhe aus.
Zu diesem Eindruck tragen die von Becker gewählten Farben bei; erst durch sie verwandelt er das unendlich Wiederholbare in Einzelstücke, diffundieren sie durch Beckers Bearbeitung in die Sphäre der Kunst. Ihre matten Farben absorbieren das Licht, so dass die gestochen scharfen Umrisslinien sie flach erscheinen lassen. In der Binnenform lenken die Farben den Blick jedoch auf die dreidimensionalen Verschattungen und Lichtpunkte dieser Alltagsskulpturen.
Becker lackierte die Stellvertreter dieser Universalformen mit Tönen aus der deutschen Farbsammlung RAL, die nach dem 1925 gegründeten Reichsausschuss für Lieferbedingungen benannt ist.⁷ Sie verzeichnet bis heute Farbtöne, die von den deutschen Behörden und dem Militär genutzt werden. Obwohl angelegt auf unendliche Wiederholung, waren einige dieser RAL-Farben endlich: So wurde RAL 4000, das Violett des 1928 bis 1939 verkehrenden Luxuszuges Rheingold auf Beckers Einheitsglas, und Dunkelgelb, die zur Tarnung gegen Infrarot-Nachtsichtgeräte genutzte Farbe seines Kugelknopfs, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Farbregister gestrichen. Andere Farbtöne haben zwar in der Farbsammlung überdauert, erfuhren jedoch, wie etwa Schwarzgrau (auch Panzergrau genannt) oder Elfenbein, Veränderungen in Rezeptur und Farbwirkung.
Carsten Becker ging diesen verschütteten Normfarben des Krieges nach: Für die Serie RAL (2017–2021) arbeitete er mit Jürgen Kiroff aus Fürth zusammen, der 2009 das Archiv des Deutsche Instituts für Gütesicherung und Kennzeichnung e.V. (RAL) übernahm, Nachfolgeeinrichtung des Reichs-Ausschusses für Lieferbedingungen. Mithilfe alter RAL-Farbkarten, Rezepturen und Archivunterlagen rekonstruierten sie die Tonalität der nicht mehr oder nicht mehr im Originalton verfügbaren Farben. Da Bestandteile davon heute nicht mehr hergestellt werden, bedurfte es zahlreicher Versuche bis zum Erreichen einer authentischen Annäherung an die historische Farbwirkung.⁸ Dieser ging Becker auch in der darauffolgenden Bildserie Agfacolor (2018–2021) auf die Spur, die sich aus Farbdiapositiven deutscher Propagandasoldaten in den 1930er Jahren speist.
Bei Beckers Recherchen für die Serie DIN wurde deutlich, dass nicht nur die Verwendungsgeschichte der RAL-Farben zum Teil unerforscht ist, auch die Historie zahlreicher DIN-Normen lässt sich nur schwer rekonstruieren.⁹
[…]
Anika Reineke ist Kunsthistorikerin und leitet die Textil- und Kunstgewerbesammlung und das Henry-van-de-Velde-Museum der Kunstsammlungen Chemnitz.
¹ Vgl. Günther Luxbacher: DIN von 1917 bis 2017. Normung zwischen Konsens und Konkurrenz im Interesse der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin, Wien und Zürich 2017; DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (Hg.): Eine bewegliche Ordnung. 100 Jahre DIN 1917– 2017, Berlin, Wien und Zürich 2017.
² Vgl. Zitzlsperger: Das Design-Dilemma, S. 165; Heide Rezepa-Zabel: »Neuere Forschungsergebnisse zum Deutschen Warenbuch«, in: museumderdinge.de, https://www.museumderdinge.de/institution/historisches-kernthema/neuere-forschungsergebnisse-zum-deutschen-warenbuch [abgerufen am 12.02.2022].
³ Vgl. Immanuel Kants Versuch, Schönheit protonormalistisch zu bestimmen, indem er die Durchschnittsmaße von 1000 vermessenen Männern dafür nehmen wollte. Link: Versuch über den Normalismus, S. 196.
⁴ Vgl. Adolf Loos: »Ornament und Verbrechen«, in: Ders.: Sämtliche Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, hg. von Franz Glück, Wien und München 1962, S. 276–288.
⁵ Zitzlsperger: Das Design-Dilemma, S. 172.
⁶ Vgl. Brian O’Doherty: In der weißen Zelle, Berlin 1996, S. 10–11.
⁷ Vgl. DIN (Hg.): Eine bewegliche Ordnung, S. 30.
⁸ Gespräch mit Carsten Becker, 4. Januar 2022.
⁹ (Eigen-)Publikationen wie Luxbacher: DIN von 1917 bis 2017, oder auch JoAnne Yates und Craig N. Murphy: Engineering Rules. Global Standard Setting since 1880, Baltimore 2019 streifen nur in Einzelfällen die Historie einzelner Normen.
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