Carsten Becker
Text Zur Biographie der Dinge, Elisabeth Sonneck
Carsten Becker – Zur Biographie der Dinge
Elisabeth Sonneck, Sept. 2023
The pack (das Rudel), 2023, des Berliner Künstlers Carsten Becker wurde erstmals in der Ausstellung Roundtrip – Fluidum #2, Teil eines Austauschprojektes Berliner und Mailänder Projekträume, in der Fabbrica Del Vapore, Milano/IT gezeigt: eine am Boden stehende, in spitzwinkligem Dreieck ausgerichtete, dichte Ansammlung von Flaschen. Im Fluss der Anordnung wechselt der Flaschentyp und die matte, jeweils monochrome Farbigkeit von zwei dunklen Grüntönen über dunkles Braun zu goldfarbenem Beige. Soweit der erste Sichtbefund. Wer die gleichnamige Arbeit (1969) von Joseph Beuys kennt, dem eröffnet sich per Titel eine weitere Ebene der Arbeit Beckers. Wer Beuys' Werk nicht kennt, kann im Rahmen der Ausstellung einen informativen Hinweis darauf erhalten. Wer The pack (das Rudel) von 1969 weder kennt noch hierbei kennenlernt, sieht Beckers The pack (das Rudel) davon losgelöst – was der Komplexität seiner Arbeit keinerlei Abbruch tut. Bereits in der lapidaren Gleichstellung dieser drei Möglichkeiten der Rezeption, die sich aus dem nicht als Zitat ausgewiesenen Rekurs auf Beuys' Werktitel ergibt, zeigt sich eine Dynamik im Werk Beckers, die man als „in medias res“ bezeichnen kann. Und eine Haltung, die der Aktivität der Betrachterinnen ausdrücklich Raum gibt.
Beckers Arbeit steht durch ihre Sujets im Kontext der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Die Auswahl der Flaschen, die er für The pack (das Rudel) lackierte, entstammt seiner intensiven Recherche zur Normierung bei Herstellungsprozessen von Werkzeugteilen, Gebrauchsgütern, Alltagsgegenständen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts durchzieht und untrennbar mit militärischen Nutzungen, auch im Nationalsozialismus, verbunden ist. Diese Dinge existieren teils bis heute im Alltagsgebrauch, unter den geläufigen DIN-Bezeichnungen.
Für die Farben gilt das Gleiche. Konträr z.B. zur Farbkonzeption Andy Warhols in seinen Camouflage-Arbeiten, wählt Becker für die Lackierung seiner Flaschen genau die Töne, die zur Verwendung als militärische Tarnfarben standardisiert wurden. Sie sind in der Farbsammlung RAL (Reichsausschuss für Lieferbedingungen) enthalten, deren Töne immer zweckgebunden sind, häufig im militärischen Kontext, und deren Herkunft und Verwendung Becker ausgiebig zu recherchieren begann: „…ich erfuhr, dass die deutsche Tarnfarbe aus dem Ersten Weltkrieg RAL 7009 Grüngrau (ehemals RAL 2, auch genannt Feldgrau Nr. 2) noch immer Bestandteil der RAL-Farben ist, mit ihr wurden im Ersten Weltkrieg die deutschen Stahlhelme lackiert. Ich las, dass nach 1945 Farben gelöscht wurden. Es kam mir so vor, als ob in diesen 216 RAL-Farben die deutsche Geschichte ,gespeichert' ist.“ Zu seinem Thema hat Becker zudem durch nahe Verwandte, die Akteure im 2. Weltkrieg waren, intensiv empfundene biografische Verbindungen.
Der goldene Beige-Ton ist RAL 8000 Grünbraun, der bis 1939 RAL 16 hieß. Er generiert den ortsspezifischen Bezug von The pack (das Rudel) in Mailand. Interessant ist hierbei auch, dass genaue Repliken des historischen Tons oft nicht möglich sind, sei es wegen Alterung der Muster, der damaligen Varianz aufgrund von Rohstoffmangel oder dem heutigen Verbot von früher zugelassenen Inhaltsstoffen. Die Perfektion verfehlt also immer wieder ihr Ziel. Becker bezieht dies über die leichten Farbdifferenzen ein, die seinen Recherche-Prozess unnormiert abbilden: er integriert die Abweichungen in die Präzision seiner Arbeit.
Wie der Titel-Bezug auf Beuys' Werk, so ist in Beckers The pack (das Rudel) auch die zugrundeliegende Recherche, sind die damit beleuchteten Fakten Gegenstand einer Erkenntnis, die das Werk nicht an seiner sichtbaren Oberfläche vermittelt. Allerdings bewirkt die Farbigkeit wie auch die spitzwinklige Anordnung der Flaschen einen Ausdruck, der bereits die erste Wahrnehmung der Arbeit nachhaltig infiltriert: Inmitten der Sachlichkeit, die von dem scheinbar vertrauten Sujet dieser Arbeit ausgeht, schleicht sich mit den dumpfen Farbtönen, der dichten, unsystematischen Häufung der Flaschen, ihrer Anordnung in einem räumlich ausgreifenden Crescendo, eine schwer zu beschreibende Irritation ein.
Wichtige Bewegungen in der deutschen Nachkriegskunst hießen: Informel, Zero, Fluxus. Zero spricht für sich: die Suche nach einem Nullpunkt, als sei ein Neubeginn ohne geschichtliche Verankerung möglich. Im Selbstverständnis der Zero-Künstler wie in der Kontextualisierung dieser Kunstrichtung (wie auch der des Informel) kann ein bewusstes Ausblenden der nationalsozialistischen Vergangenheit festgestellt werden. Nach den künstlerischen Zeugnissen wie von Charlotte Salomon und Felix Nussbaum gab es mit sehr wenigen Ausnahmen zunächst keine Konfrontationen mit den Nazi-Verbrechen (etwas später die Antifa-Kunst, die mit der Ideologie der DDR kompatibel war – und dort wurden wiederum 1949 in der Formalismus-Debatte die Zeichnungen Herbert Sandbergs aus dem Konzentrationslager Buchenwald diffamiert). Auch die frühen Documenten waren anders ausgerichtet: sie zeigten Weiterentwicklungen dessen, was unter den Nazis als „Entartete Kunst“ verfemt und zerstört worden war. Die deutsche Täterschaft wurde nicht thematisiert, eigene Kollaborationen teils sogar bewusst verwischt, wie im erst kürzlich aufgeklärten Fall Emil Noldes und seines Exegeten Werner Haftmann. Erst in den nachfolgenden Generationen setzten künstlerische Reflektionen ein. Darin ist auch Beckers Werk verortet.
Ganz anders in der Literatur und Philosophie, wie z.B. bei Ernst Bloch, Elie Wiesel, Theodor Adorno, Hannah Ahrendt, Paul Celan, Nelly Sachs, Rose Ausländer, und später bei Imre Kertész. Autorinnen haben sich vor und nach 1945 der Frage gewidmet, ob und wie überhaupt ihr Medium noch brauchbar sei, nach der Perversion der Sprache durch die Nazis. Das Dichten ist schreibenderweise für unmöglich erklärt worden. Derart das sprachliche Schaffen in seiner eigenen Unmöglichkeit anzusiedeln und es trotzdem nicht aufzugeben, stellt ein weit existentielleres „Zero“ dar. – Die Frage der Selbstreflektion im Angesicht der Geschichte gilt für das Bildmedium ebenso, und diese Auseinandersetzungen begannen in der Bildenden Kunst nach 1945 erst mit deutlichem zeitlichem Abstand.
Es gibt einen direkten inhaltlichen Bezug zum Begriff der Norm, die für Beckers Arbeit konstituierend ist, im Denken Hannah Ahrendts. Sie hat auf die unstillbare Frage, wie es zu den Verbrechen im Nationalsozialismus kommen konnte, herausgearbeitet, dass es die Normalität und keine ausnahmsweise Psychopathie der Nazi-Protagonisten gleich welches Ranges war, die in diese Verbrechen mündete. Die Normalität erscheint inmitten des Grauens und letztlich als dessen Ursache. Nach Ahrendts Definition von Normalität, die den Selbst-Verzicht auf Individualität, d.h. im Kant'schen Sinne das Aufgeben des aufklärerischen Impulses impliziert – besteht in der Normalität die eigentliche Psychopathie. Sie ist zur Ermöglicherin der „Verbrechen gegen die Menschheit“ geworden (Ahrendt hebt die ursprüngliche Benennung im Londoner Statut der Nürnberger Prozesse hervor, die nachfolgend in deutscher Übersetzung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abgemildert wurde).
Wie sich der grauenhafte Inhalt des Begriffs „Normalität“ zum Kontext der „Norm“ in den von Becker künstlerisch transformierten Objekten derselben Zeit verhält, ist bemerkenswert. Die Objekte von Beckers Arbeit sind auf Täterseite verortet. Umso bedeutsamer wird, wie sich seine künstlerische Manifestation dazu verhält, und nicht nur, welche Sujets er wählt. Spätestens hier kommt der weiß-tonige Umraum seiner fotografierten Objekte ins Spiel. Als physikalisch-optischer Fakt ist Weiß die Summe und zugleich Annullierung aller Farbwerte in der additiven Farbmischung des Lichts. Als visuelle Nullstelle (ver)birgt Weiß das Verlöschen farblicher Individualität, die den Objekten gleichwohl zueigen ist – und kann vielleicht sogar für den paradoxen Nullpunkt stehen, den die Literatur nach 1945 vermocht hat in Worte zu fassen. Damit kommt dem Weiß in Beckers Fotografien eine Bedeutung zu, die sich vom Konzept des White Cube abhebt (der die De-Kontextualisierung dessen betreibt, was er beinhaltet; aber Beckers Objekte selbst betreiben vielmehr eine Re-Kontextualisierung in ihre historischen Ursprünge hinein), und die sich auch von der Bedeutung des Weiß als Inkarnation geistiger Reinheit und Freiheit in der Kunstrichtung des Zero unterscheidet. Weiß faktisch als Farbe zu sehen, die in Hintergrund und Umgebung ebenso essentiell wie die Farbgebung der Objekte selbst erscheint, legt eine konzeptuelle Kohärenz in Beckers Fotografie offen, die übersehen würde, wenn man eine symbolische Identifikation des Weiß mit einem bildlich zitierten White Cube annähme. Dem faktischen Weiß entspricht die Mattheit des Farbauftrags in The pack (das Rudel): statt im Glanz umgebendes Licht zu reflektieren, betont der matte Lack die Körperhaftigkeit der Objekte, ihre materielle Existenz, ihr Da-Sein, ihre skulpturalen, sich in feinen Schattierungen abzeichnenden Binnendifferenzen – eine Bewegung der Konzentration, in Farbe.
Der Unterschied zwischen der visuellen Wahrnehmung der Arbeit Beckers und ihrer durch Informationen ergänzten Wahrnehmung ist markant. Das Bedeutungsfeld von Beckers Arbeit eröffnet sich in seiner Tiefe und seinem Umfang erst im Lesen über die Arbeit. Atmosphärisch dringt es aber vital in die sichtbare Oberfläche der Präsentation vor und wird vor allem durch die Farbgebung fühlbar. – Wie tiefgreifend die Wirkung von Farbe sein kann, zeigt sich z.B. in der Malerei Luc Tuymans'. Weit über die Ikonographie seiner Bilder hinaus, teilt sich deren Gehalt durch Tuymans' spezifische Koloristik mit, durch seine fahle, gebrochene Farbigkeit, deren Licht gelöscht, erstickt, wie in der Bildoberfläche stillgestellt wirkt. Sie entleert auch helle Töne jeglichen Leuchtens und entfaltet eine expressiv-introvertierte Kraft. Gemalte Farbe, aber auch farbige Sachverhalte vermögen unmittelbare Resonanzen auszulösen. Die Farbe in Beckers Objekten arbeitet der Rezeption als Katalysatorin zu: sie wirkt zunächst individuell, psychisch und introspektiv, und eröffnet damit das Interesse und die Wahrnehmung für die umfassende Erkenntnis des kriegerischen Gebrauchs, dem sie, wie die Objekte, die sie fasst, nutzbar gemacht wurde. Die zweistufige Rezeption von Beckers Objekten stellt ein Ent-Decken dar und wird sinnstiftend: Der Hintergrund tritt in den Vordergrund, der Kontext wird zentral.
Zur Frage der Ästhetik, die sich in Beckers Arbeit auf den ersten Blick affirmativ zu der Ästhetik, also auch zu den Konzeptionen der verwendeten Objekte und Farben verhält – d.h. zur Frage nach den künstlerischen Mitteln und Strategien im Verhältnis zum Thema und Sujet von Beckers Arbeit: Dazu kommt mir Imre Kertész in den Sinn, sein Roman eines Schicksallosen. Er hat durch seine affirmative, d.h. detaillierte, rein faktisch beschreibende Haltung in der Schilderung seiner Erfahrungen im Konzentrationslager Buchenwald eine schockierende Wirkung erzielt, paradoxerweise eben durch den völligen Verzicht auf Emotionalität und Bewertung. Indem keine Gegenwehr und Abgrenzung möglich ist, bewirkt das Lesen einen Zustand fortwährender Implosion.
Der fundamentale Unterschied: Kertész' Schilderung vollzog sich (auch) an ihm selbst, er war unausweichlich betroffen, Becker und wir heute sind es nicht. Im Respekt dieses Unterschieds erscheint es dem Gewicht des Themas genau angemessen, dass Beckers Arbeit diesen referierenden, recherchierenden Charakter hat und vollkommen sachlich und detailgenau einen Rückspiegel anhand von Dingen aktiviert. Seine Arbeit gibt einen dezidiert selbstbewussten, also der deutschen Täterschaft bewussten, und wegen der Fokussierung auf das Faktische unbezweifelbaren Rückspiegel. Bei Kertész ist die Grundlage seiner Kunst – die authentische Erfahrung – inzwischen nahezu historisch, da kaum noch Zeitzeugen leben, auch er selbst nicht mehr. Die Dinge, Beckers Objekte hingegen, haben sich in stiller Tarnung bis heute erhalten und liegen – z.B. als Flaschen – in unseren unwissenden Händen. Beckers Arbeit bewirkt, folgerichtig, auch nicht diese eindringliche Erschütterung wie Kertész' Roman, sondern der Bezug zu dem eigentlichen Leben der Objekte ist sehr leise, fast unmerklich für die visuelle Wahrnehmung.
Dabei sind Beckers Objekte, auch die Flaschen in The pack (das Rudel), keine Objet trouvés, sondern sie sind in ihrer seriellen Faktizität Artefakte. Beide, Farbtöne und Flaschenkörper, sind demselben historischen Kontext entnommen, die Kombination beider ist künstlerische Setzung, ebenso der in Anordnung und Titel aufgemachte Bezug zur Beuys-Arbeit. Dass auch dieser Bezug mimetisch realisiert, die Mimesis zugleich aber bewusst konterkariert wird, belegen drei entscheidende Punkte: Dass die Objekte in The pack (das Rudel) Flaschen und keine Schlitten sind, unterläuft eine symbolisch aufgeladene Verwendung der Dinge wie bei Beuys und folgt der streng faktisch-artefaktischen Beschaffenheit von Beckers Arbeit: er weist den Dingen keine Bedeutung zu, sondern arbeitet heraus, was sie sind. Bereits das Selbstverständnis künstlerischer Autorenschaft ist also grundverschieden. – Das summarische, langgestreckt-räumliche Dreieck, in dem sich Beuys' Schlitten befinden, beginnt mit der höchsten Position des Schlittens am Ausgangspunkt der „Schüttung“, der offenen Wagenklappe, und ergießt sich von dort in die Breite, in den Raum, auf den Boden. Bei Beckers Arbeit hingegen ist es die Spitze des Dreiecks, die mit einer kurzen Flasche dem Boden am nächsten ist. Von dort aus wächst das Pack aufwärts in den Raum hinein, ohne ein externes Objekt, das die gesamte Bewegung bedingen würde. Deren Ursache ist dem Pack innewohnend, die Bewegung selbstreferenziell: ein inhaltlich bedeutender Unterschied zu Beuys' Arbeit. Damit erreicht Beckers The pack (das Rudel) eine anonymisierte Personalisierung seiner Objekte, ein In-Eins-Gehen der handelnden Subjekte mit ihren Mitteln, den Normen. Nimmt man die umgangssprachliche Konnotation von „Flasche“ hinzu, ergibt diese einen untheatralischen Begleitkommentar in vordergründig flapsigem, letztlich bitterem Ton auf eine leere menschliche Verfassung, die in ihrer Mehrzahl – im „Pack“ – zu gesteigerter Bedrohlichkeit anwächst. – Durch die fehlende Referenzgröße (der Bus) wird das Pack selbst zur Ursache der expansiven Bewegung, und die Gesamtgröße von Beckers Installation wirkt variabel und prinzipiell grenzenlos erweiterbar, was die Dynamik des Packs bekräftigt.
In der Affinität seiner Arbeit zu der von Beuys, die bis in den wortgleich übernommenen Titel reicht, erscheint zugleich die Kritik Beckers. Er schreibt, der Interpretation von The Pack (das Rudel) durch Michael Schwarz, 1980, folgend („'Das Rudel', es steht für die Invasion der Amerikaner in Vietnam, für Polizisten im Einsatz gegen demonstrierende Studenten, für den Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR, für das Vorgehen der italienischen Polizei gegen demonstrierende streikende Arbeiter im Herbst 1969 in Mailand usw.“): „Salopp und bestimmt unfair ausgedrückt: Beuys thematisiert als Künstler die Täterschaft anderer, seine eigene verbrämt er.“ Genau diesem Punkt der deutschen Täterschaft aber widmet Becker seine Arbeit seit 2017. In der Mailänder Fabbrica Del Vapore wird zudem der italienische Part der faschistischen Achse thematisiert und als Detail der Farbgebung realisiert. Becker dazu: „Das Gelbbraun war die Tarnfarbe für ,Großgerät' für Nordafrika von März 1941 bis April 1942. Der Einsatz war dazu da, Mussolini zu helfen.“
Auch die gestochene Schärfe in seiner Fotografie erscheint ambivalent – sie zeigt die Objekte als existierende Dinge, und lässt sie zugleich unwirklich und befremdlich erscheinen, als farbige Verkörperungen mit fast verschwindenden Schatten in einer äußerst reduzierten, ortlosen, weißfarbigen Räumlichkeit verankert, die zwischen Zwei- und Dreidimensionalität oszilliert. Inszenierung und Reportage gehen dabei eine Synthese ein, die so sachlich entblößend wie schweigsam suggestiv wirkt. – Das in der Fotografie von Bernd und Hilla Becher entstehende Erinnerungsmoment erscheint dagegen im erhellendsten Sinn konservativ. Ihre Dokumentationen bezeugen die Existenz industrieller Bauten, oft vor deren Abriss und endgültigem Verschwinden. Dass ihr fotografisches Vorgehen die Körperlichkeit der Bauten in die Zeitlichkeit aufeinanderfolgender Ansichten von wanderndem Standpunkt aus verlegen kann, mündet in die verstärkte Beglaubigung einer sich wandelnden, dem Vergessen preisgegebenen Lebenswelt für ihr Fortbestehen im zweidimensionalen Bild. Im Vergleich dazu scheint das fotografische Portrait der Objekte Beckers trotz seines auch im Titel vermittelten, unzweifelhaften Faktenbezugs beinahe entrückt. Die farbige Inszenierung der Kugelknöpfe, Flaschen, Handgriffe führt ins Offene, weniger in die Vergewisserung. Es bleibt angesichts der Dinge ein Abstand fühlbar, in dem die Abbildung des Objekts nicht allein als Fakt übermittelt, sondern die künstlerische Umsetzung als sichtbarer Teil der Abbildung miteingeschmolzen wird.
In Beckers Objekten ist der strikte Bezug auf historische Fakten mit deren künstlerischer Modifizierung untrennbar verbunden, und doch bleiben beide Elemente unvermischt, in klarer Dichotomie bestehen. Die Normalität, d.h. die standardisierten Formen und Farben in Beckers Recherche, wird durch seine Arbeit in eine individuelle, kontemplative Sphäre transformiert. Mit dieser Ambivalenz wird – um auf Hannah Ahrendt zurückzukommen – die letztlich tödliche Wirkung von Normierung durch Becker faktengetreu angezeigt, und zugleich wird sie durch seine künstlerische Umsetzung exemplarisch aufgehoben.
Als Strategie von Beckers Arbeit ließe sich ausmachen: sich ins Zentrum der Tatsachen versetzen, um sie zu versetzen. Affinität und Mimesis werden zu künstlerischen Werkzeugen einer darin einsetzenden, beharrlichen Entgegensetzung. Eine Strategie mit langer Tradition, wie sie auch in Mauricio Kagels Werk 10 Märsche um den Sieg zu verfehlen (1978/79) hörbar wird.
Beckers Arbeit zu Normen beleuchtet nicht nur die ästhetisch-politischen Verwachsungen in der Aktualität historischer Farben und Formen. Vielmehr erzeugt sie einen eigenen politischen Kontext in der Gegenwart. Sie ist ein stiller und standhafter Lichtblick in dem Dickicht, das sich heute mehr und mehr über die Nazi-Zeit legt, die Aufklärung behindert und die Forderung des Nie wieder! hintergeht. Diesbezüglich gewinnt Beckers Arbeit eine politisch ausgreifende Dimension, die ohne programmatischen Geräuschpegel auskommt und die, wie auch die Sujets seiner Arbeit, unmittelbar in den aktuellen gesellschaftlichen Alltag eingelagert ist. Indessen entwickelt sich bei aller Kühle der Ästhetik eine direkte und beunruhigende Nähe zu den Betrachterinnen: solche Flaschen lassen sich leeren, aber ihr geschichtlicher Grund wird freigelegt, und die Farben verankern im Sehen das Wissen um ihre mörderische Zweckbestimmung.
Beckers Arbeit überantwortet, indem die Differenz zwischen ihrer visuellen Wahrnehmung und der Kenntnis ihrer Hintergründe nur durch die Arbeit des Erkennens aufgehoben werden kann, den Akt der Aufklärung an jede einzelne Betrachterin. Beckers Komplizin hierbei ist die Farbe, diese kaum fassbare, so verschwiegene wie beredte Botin. Sie vermag bereits in der ersten Begegnung mit The pack (das Rudel) ein spezifisches, intensives Gefühl für das aufzurufen, was sich danach in der Beschäftigung mit den Hintergründen von Beckers Arbeit in voller Tiefe eröffnet.
Elisabeth Sonneck ist Künstlerin und betreibt den Projektraum super bien! Berlin.
Serie
DIN
Show
FLUIDUM², Fabbrica del Vapore, Milan, Italy, 2023
JavaScript is turned off.
Please enable JavaScript to view this site properly.