Trauma Through Time
Interview mit Ina Filla
Das Interview mit der Neurowissenschaftlerin Dr. Ina Filla beleuchtet die Konzepte transgenerationaler Traumata, insbesondere im Kontext des Holocausts. Es wird erläutert, wie traumatische Erfahrungen durch epigenetische Mechanismen, Sozialisation und Bindung über Generationen hinweg weitergegeben werden können. Filla erklärt die biologische Grundlage dieser Übertragungswege anhand aktueller Forschungsergebnisse, unter anderem aus Tierversuchen, und thematisiert die komplexen psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen vererbter Traumata.
C.B.: Ich habe dich auf einer Party gefragt, ob es stimmt, dass der Holocaust in der DNA nachgewiesen werden kann, auch noch in der dritten Generation. Deine Reaktion war eindeutig?
I.F.: Ja, tatsächlich geht die Holocaust-Forschung davon aus, dass alle Juden Europas – unabhängig davon, wie sie den Holocaust überlebt haben – von dem Trauma der Verfolgung betroffen sind. Und Traumata können, wie wir mittlerweile wissen, durch verschiedene Wege an die folgenden Generationen weitergegeben werden: durch Epigenetik, durch Sozialisierung oder auch durch die Bindung zwischen Mutter und Kind. Das heißt, dass die traumatischen Erfahrungen unserer Groß- und Urgroßeltern unter Umständen noch Auswirkungen auf unsere Generation haben können.
C.B.: Könntest du kurz erklären, was ein psychologisches Trauma ist?
I.F.: In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation wird ein traumatisches Erlebnis definiert als ein Ereignis, das so überwältigend und bedrohlich ist, dass es die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten bei weitem übersteigt. Es ist begleitet von Gefühlen der Hilflosigkeit und Ausgeliefertheit und führt zu einer dauerhaften Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Mit anderen Worten: Die bisher vertrauten Regeln der Welt werden aus den Angeln gehoben – kurzzeitig oder auch langfristig. Das kann durch einen schweren Unfall, eine Naturkatastrophe oder durch Opfer von Folter, Terror, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen verursacht werden.
C.B.: Wie funktioniert die Traumaübertragung in der Epigenetik?
I.F.: Erinnerungen an sich können nicht vererbt werden. Die inneren Bilder von den Kriegserlebnissen der Großmutter können also nicht direkt an die Enkelin weitergegeben werden. Aber intensive Stresserlebnisse können molekular auf das Kind übertragen werden. Das nennt man transgenerationale Epigenetik.
Diese Art der Traumaübertragung wurde an Mäusen untersucht. Die Forscherin Isabelle Mansuy von der ETH Zürich hat beispielsweise neugeborene Mäuse von ihren Müttern getrennt – ein traumatisches Erlebnis für die Tiere. Dieser Schock führte später zu Depressionen und unsozialem Verhalten – beobachtbaren und messbaren Symptomen bei den Mäusen.
Um auszuschließen, dass die Traumaübertragung durch das Verhalten traumatisierter Eltern geschieht, etwa durch veränderte Bindung oder Sozialisierung, zeugten Wissenschaftler die Mäuse durch künstliche Befruchtung. Die Tiere wurden von unbelasteten Leihmüttern ausgetragen und aufgezogen. Dennoch litten die Mäuse unter den Folgen des Traumas ihrer genetischen Eltern, Großeltern oder sogar Urgroßeltern.
Damit war klar: Das Trauma wird biologisch weitergegeben – über Eizellen oder Samenzellen – und zwar mindestens über drei Generationen. Als möglicher Überträger gilt die Ribonukleinsäure (RNA), ein Biomolekül, das der DNA ähnlich ist, sich aber durch Umwelt, Lebensstil oder traumatische Ereignisse verändert. Ein weiterer Mechanismus ist die DNA-Methylierung: kleine chemische Anhängsel, sogenannte Methylgruppen, bestimmen, ob ein Gen abgelesen und aktiviert wird oder nicht.
C.B.: Was genau bedeutet Epigenetik?
I.F.: Epigenetik beschreibt, wie Umwelteinflüsse unsere Gene beeinflussen – das ist mittlerweile gut erforscht. Mein Lieblingsbeispiel ist das Tragen von Socken bei Kleinkindern. Wenn Kinder bis zum Alter von drei Jahren ständig Socken tragen, verändert sich ein Gen, das die Temperaturempfindlichkeit steuert, und diese Kinder reagieren später empfindlicher auf Kälte. Bei meiner eigenen Tochter war es genau andersherum: Sie weigerte sich, Socken zu tragen, und hatte selbst bei nackten Füßen auf kaltem Steinboden im tiefsten Berliner Winter nie wirklich kalt.
C.B.: Man könnte sagen, es gibt auch Trauma auf Täterseite aus Kriegszeiten. Zeigt sich das Trauma epigenetisch bei Opfern und Tätern unterschiedlich?
I.F.: Jeder Krieg führt unweigerlich zu Traumatisierungen. Für die Opfer des Holocaust ist aber besonders die systematische Vernichtung von Identität, Persönlichkeit und Individualität prägend – das, was wir heute als Entmenschlichung in den Konzentrationslagern verstehen.
Der italienische Schriftsteller Primo Levi, selbst Überlebender von Auschwitz, beschrieb diese verschiedenen Ebenen der Vernichtung. Er sagte, dass die Entmenschlichung – das Wegnehmen von Identität, Gewohnheiten, Kleidung und buchstäblich allem – die doppelte Bedeutung des Begriffs „Vernichtungslager“ verständlich macht. Diese Entmenschlichung gipfelte im Tätowieren von Nummern auf die Haut von Menschen, die in diesem Moment ihren Namen verloren.
Die Folgen dieses Traumas des Identitätsverlusts zeigen sich zum Beispiel in Überlebenden-Aussagen wie „Ich bin jetzt ein anderer Mensch“ oder sogar „Ich bin kein Mensch“.
C.B.: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen diesem Thema ablehnend gegenüberstehen. Wie passt das aus deiner Sicht zu der Zahl, die du mir genannt hast, nämlich dass 60% der Kinder aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs traumatisiert sind und dass diese Traumata teilweise an nachfolgende Generationen weitergegeben wurden?
I.F.: Das ist eine sehr gute Frage. Zwei Aspekte sind hier wichtig. Erstens konnte die transgenerationale Epigenetik, also die genetische Weitergabe von Trauma über Generationen hinweg, beim Menschen bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden. Es ist extrem schwierig, epigenetische von genetischer Vererbung zu unterscheiden und zudem epigenetische Vererbung von Umwelteinflüssen und kultureller Prägung zu trennen. Deshalb ist das Thema in Fachkreisen weiterhin umstritten.
Zweitens ist Trauma ein komplexes Thema. Selbst wenn wir selbst Trauma erlebt haben, haben wir oft keinen vollständigen Zugang dazu, weil das Trauma abgespalten wird – also aus dem Bewusstsein verdrängt. Viele Aspekte bleiben, wenn nicht aufgearbeitet, im Unterbewusstsein verborgen.
Jetzt stell dir vor, was das für vererbtes Trauma bedeutet – Traumata, die wir selbst nie erlebt haben. Das ist schwer vorstellbar. Und wenn man es sich vorstellt, ist es oft angstbesetzt, weil man sich unweigerlich fragt, wie ein Trauma überhaupt aufgelöst werden soll, wenn es nicht einmal im eigenen Unterbewusstsein schlummert, sondern im Unterbewusstsein von Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern.
Interessanterweise sind es oft die unausgesprochenen Traumata – die im Unterbewusstsein bleiben –, die die stärksten Belastungen für die nachfolgenden Generationen darstellen.