Where the Trees Have Numbers

Auf der Suche nach Straßennamen, Hausnummern oder anderen nützlichen Informationen im urbanen Raum verweilt der Blick der Suchenden gelegentlich bei den Nummern an den Stämmen der Bäume. Kleingehalten, aber farbig und auffällig fallen die Schildchen mit gravierten Ziffern auf der Rinde leicht ins Auge. Die unterschiedlichen Formen, Farben und Größen der Zahlenplaketten repräsentieren ein komplexes Kataster-System, den meisten Stadtbewohnern fehlt der Schlüssel zur Dechiffrierung der Zahlenkolonnaden. Mitarbeitern des Grünflächen-Amts Berlin sind die Informationen und die Pflege des Plaketten-Systems vertraut. Es ist ein wichtiges Instrument, den urbanen Pflanzenwuchs zu kategorisieren, zu verwalten und zu kontrollieren.
Die Gruppenausstellung des Kunstkollektivs Frontviews findet im Pavillon der ehemaligen Ausbildungsräume des Grünflächenamtes Mitte/Tiergarten statt. Über sechs Jahre war das Gelände ungenutzt, leer und frei von menschlicher Aktivität. Die Natur nutzte die Zeit und hat sich sukzessiv, verschmitzt und frei nach dem Motto „Wer hat den längeren Atem?" auf der Fläche ihrer einstigen Herren ausgebreitet. So erzählt das Ensemble aus Pavillon, Werkräumen, Garten, Hof und Patio in seinem jetzigen Zustand nicht nur vom Wechselspiel von generativem Trieb und baulicher Kontrolle, sondern auch vom Loslassen und dem Fluss der Zeit in urbanem Kontext. Die erneute humane Aktivierung durch die Künstler und Theoretiker von Frontviews brachte einen Namen für den Komplex, nämlich HAUNT, und einen neuen Zweck: Ort für Ausstellung und Vermittlung zeitgenössischer europäischer Kunst. In den zurückliegenden Jahren und Monaten ist viel passiert. Daher kommt auch ein neuer Umgang, ein neuer Modus Operandi hinzu, nämlich das kollektive Abtasten und Einlassen auf die aktuellen Ausnahmezustände. Wie gehen wir freischaffend damit um, wie können wir sicher zusammenkommen? Wie reflektieren wir gemeinsam den Umbruch und entwickeln ein Bewusstsein für die neuen Notwendigkeiten?
Notwendigkeiten, die bereits in dieses Areal eingeschrieben sind. Es geht um das Loslassen alter Gewissheiten, es geht um den Verlust von Kontrolle und Sinn. Wie kann man die Dinge frei gedeihen lassen? Damit wird keinesfalls die Entschleunigung diverser Wellness-Konzepte angestrebt, sondern ein genereller, alternativer Umgang mit unserer Zeit, denn wie Byung-Chul Han anmerkt: „Notwendig ist heute nicht die Entschleunigung, sondern eine Zeitrevolution, die eine ganz andere Zeit beginnen lässt."1 Auch in der Kunstszene Berlins scheint sich aktuell die Zeitenwende abzuzeichnen, daher liegt es auf der Hand, neue Räume zu erschließen und neue Arbeitsweisen zu erproben. Anlässlich dieser ersten offiziellen Gruppenausstellung im HAUNT stellen sich die Beteiligten mit ihren aktuellen Arbeiten vor. So wird ein erstes Feld abgesteckt, auf dem sich das kommende Geschehen ankündigen kann. Dabei wird die gesamte Gruppe aktiv, so dass alle beteiligt sind und sichtbar werden.
Zusätzlich zu dieser Gruppenausstellung der aktiven Mitglieder von Frontviews im Pavillon findet auf dem weitläufigen Hof des Geländes die Skulpturenausstellung Concrete#1: Respiration statt.
Footnotes
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aus Byung-Chul Han: „Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben", Zeit Magazin, 2013 ↩