Continental Colors

Frontviews at Haunt, Berlin, 28. Mai – 19. Juni 2021: Der Blick geht nach Westen: Die Farben von Los Angeles, wo die Ausstellung 2022 zu sehen sein wird, mischen sich ins kontinentaleuropäische Klima
Continental Colors
28. Mai – 19. Juni 2021
 
Vernissage
Freitag, 28. Mai, 16 Uhr
 
Frontviews at Haunt
Kluckstraße 23, 10785 Berlin
Carsten Becker, Willem Besselink
Serie

Der Blick geht nach Westen: Die Farben von Los Angeles, wo die Ausstellung 2022 zu sehen sein wird, mischen sich ins kontinentaleuropäische Klima. In Continental Colors widmet sich Carsten Becker den Implikationen deutscher RAL-Farben und des amerikanischen Olive Drab. Willem Besselink erforscht die imaginativen Farben in der Literatur des „Golden State“ Kalifornien.

Für den Renaissancekünstler Giorgio Vasari war colore nicht vorstellbar ohne disegno, das Konzept. Beckers und Besselinks Farben liegt das disegno des Zivilisatorischen zugrunde: Regularien, Normen und Systeme. Die beiden Künstler dekontextualisieren die Farben von ihrem historischen, literarischen, emotionalen Gebrauch und spüren so deren kontextuellen Logiken nach. Sie machen in ihren Werken erfahrbar, wie die zivilisatorischen Konzepte mit uns interagieren.

Becker untersucht die deutschen Normenkataloge DIN und RAL, die seit 1917 und 1925 unter anderem Maschinenteile, Materialien und Farben standardisieren. Scheinbar pure wirtschaftliche Effizienz zum Ziel, waren beide von großer Bedeutung für die Weltkriege. Normteile konnten in ressourcenknappen Kriegszeiten den entscheidenden Produktions- und Zeitvorteil verschaffen. Standardfarben wie Dunkelgelb, 1943 in der Wehrmacht eingeführt, und Olive Drab, Camouflage der US-Armee, prägten den Krieg. In der nordafrikanischen Wüste standen sich die so getarnten Soldaten während des Zweiten Weltkriegs gegenüber.

In seiner Serie Romankleuren verarbeitet Besselink Farben aus Romanen, die in Los Angeles geschrieben und angesiedelt sind. Selbsterschaffene Regelwerke dienen ihm als Vehikel, um sie physisch und visuell begreifbar zu machen. So entsteht in seinen Zeichnungen ein codiertes Geflecht farbiger Linien, deren Einfallwinkel sich mit jedem Kapitel ändert. Auf Leinwand übersetzt Besselink die Poetik der imaginativen Farben in quantifizierbare Farbblöcke. Orangene Bänder, die den Ausstellungsraum durchspannen, erschaffen schließlich interferierende Systeme zwischen Karen Tei Yamashitas Roman Tropic of Orange (1997) und der sie umgebenden Architektur.

Becker und Besselink nehmen Historie und Literatur, extrahieren daraus Farben und sezieren deren Symbolkraft. In neuer Form von ihnen arrangiert, bietet sich ein unmittelbar visueller Zugang zu den ausgestellten Arbeiten und deren inhärenten Ordnungen. Sinneseindrücke und Kontexte, sonst in unserer Wahrnehmung kaum voneinander zu trennen, lassen sich so miteinander abgleichen: Das aufrechtstrebende Kreuzgelenk scheint nicht mehr dasselbe, nachdem Reinorange als Waffenfarbe der Feldjäger und das Normteil als militärisch nutzbar identifiziert ist. Die optimistische Strahlkraft der goldenen Linien wird brüchig, sobald wir wissen, dass Ben H. Wintersʼ zugrunde liegende Erzählung Golden State (2018) von einem dystopischen Überwachungsstaat handelt.

Anika Reineke