Gläsern
von Formen unkontrollierter Kontrolle



Foto: Eric Tschernow

Foto: Eric Tschernow

Zur Ausstellung
Gläsern ist ein mehrdeutiger Begriff. Nach früheren (visionären) gesellschaftlichen Umbrüchen, die vor allem in der Baukunst und so die einstmals sakralen Konnotationen in den Glauben an grenzenlose Offenheit und Demokratie verwandelte (Joseph Paxtons spektakulärem Kristallpalast, 1851) und zum transformatorischen Ausdruck gefunden haben - später im Zusammenhang mit uns Menschen als Metapher für Datenschutz, Überwachung und Durchleuchtung staatlicher Kontrollmechanismen lassen sich heute vor allem in der Bildenden Kunst neue gläserne Referenzen beobachten. Materialikonografisch beleuchtet, spielt auch bei der Herstellung von Glas die Kontrolle und Transparenz eine Rolle, während der nur scheinbar unkontrollierte Prozess in den Werkstätten ebenfalls überwacht wird. Andere Prozesse, die sich aus einer geistig meditativen Handlung erklären, lassen sich heute finden, wo der Werkstoff Glas in der Vielfalt seiner Eigenschaften eine erweiterte Wahrnehmung erfährt – wo das Bewahren der Dinge im Leben und in der Kunst auf einer eher konzeptionellen Ebene verhandelt wird. In der jüngeren Kunstgeschichte für Ansammlungen von Abfallprodukten als Sozialporträts oder davor wegweisend als Hülle für Luft wie in Duchamps Air de Paris von 1919. Fragil und doch sehr hart, begehrenswert schön und doch gefährlich scharfkantig. Die vielen Facetten von Glas beschäftigen seit jeher Künstler:innen aller Genre, die den amorphen Stoff nicht nur als Material verwenden und seine unwirkliche, magische Transparenz festzuhalten suchen.
Es ist das Gedächtnis des Materials, welches an den zumeist farbigen Glasoberflächen und je nach choreografierten Licht und Perspektiven aus dem Inneren reflektiert. Jenseits des Farbauftrags entstehen Spiegelungen und Reflexionen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen - auch für die dargestellte Umgebung und den Raum. Etymologisch betrachtet bedeutet gläsern, durchsichtig, transparent, glasklar oder auch glasartig. Im übertragenen Sinne wird damit auch ein leerer Blick oder die Offenlegung bestimmter (gesellschaftspolitischer) Zusammenhänge beschrieben. Dabei stellt sich die Frage inwiefern, jeder noch selber entscheiden kann, wie gläsern er sein will. Gleichzeitig denken wir an (kostbare) Gefäße, historisches Kunsthandwerk, Inhalte, aber auch Erinnerungen und die damit verbundenen Spuren und Speicher von zumeist kultureller Historizität.
Die Faszination für das zumeist lichtdurchleuchtete Material entfaltet eine unkontrollierte Aura, verbunden mit einer einmaligen ästhetischen aber auch körperlichen Erfahrung, zwischen Essenz und Existenz. Es ist der Widerschein, der viele vor allem in Verbindung mit sakralen Bauten und den dort zumeist farbiger Glasmalerei kennen. Hier kann die Brücke zu zeitgenössischen künstlerischen Medien und ihrer Wiederbelebung geschlagen werden – zu Malereien, skupturalen Formen, Film, Raumzeichnungen oder Schriftbilder, die nicht nur formal als Erweiterung der klassischen Bildhauerei betrachtet werden können. Ihre gestalterische Entwicklung und technische Machbarkeit ermöglicht seit dem "Gläsernen Menschen" in den 30-er Jahren und damit der Beginn für die Auseinandersetzung auch aus künstlerischer Perspektive, Varianten über die vertraute vor allem funktionale material-ikonografische Vielfalt hinaus. Glas ist mehr: Zwischen ästhetischen Formgebungen und Gestaltung reflektieren die Künstler:innen der Ausstellung über Hintergründe, Ressourcen und veränderte Produktionsbedingungen. Die Welt ist gläsern geworden – die Wirklichkeit zum Kaleidoskop. Es sind vor allem Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse über die kulturellen Dinge im Leben und in der Kunst, denen wir in der „neuen Normalität“ mit verstärkten Impulsen für (gesellschaftliche) Transparenz begegnen – und diese gleichzeitig mit anderen (auf)klärenden Inhalten anstreben, weil nicht nur aus Brüchen oder auch Scherben Neues entsteht, sondern auch „gläserne Decken“ verschwinden.
Die Bewunderung ist geblieben. Ende 2023 hat die UNESCO die manuelle Glasfertigung zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt.
Ankündigung




