Gläsern

von Formen unkontrollierter Kontrolle

Schloss Biesdorf, Berlin, 10. März – 13. Apr. 2025: Gläsern ist ein mehrdeutiger Begriff
Gläsern
10. März – 13. April 2025
 
Vernissage
Sonntag, 9. März, 18 Uhr
 
Schloss Biesdorf
Alt-Biesdorf 55, 12683 Berlin
Carsten Becker, Ina Bierstedt, Marcel Buehler, Roberto Uribe Castro, Sunah Choi, Monika Goetz, Tilman Hornig, Felix Kiessling, Isa Melsheimer, Christian Niccoli, Monira Al Qadiri, Shirin Sabahi, Kai Schiemenz, Julius Weiland, Nicole Wendel & Emma Cocker, Thilo Westermann, René Wirths.
Curated by Harald F. Theiss basierend auf einer Idee von Ina Bierstedt und René Wirths.

Gläsern ist ein mehrdeutiger Begriff. Nach früheren (visionären) gesellschaftlichen Umbrüchen, die vor allem in der Baukunst und so die einstmals sakralen Konnotationen in den Glauben an grenzenlose Offenheit und Demokratie verwandelte (Joseph Paxtons spektakulärem Kristallpalast, 1851) und zum transformatorischen Ausdruck gefunden haben - später im Zusammenhang mit uns Menschen als Metapher für Datenschutz, Überwachung und Durchleuchtung staatlicher Kontrollmechanismen lassen sich heute vor allem in der Bildenden Kunst neue gläserne Referenzen beobachten. Materialikonografisch beleuchtet, spielt auch bei der Herstellung von Glas die Kontrolle und Transparenz eine Rolle, während der nur scheinbar unkontrollierte Prozess in den Werkstätten ebenfalls überwacht wird. Andere Prozesse, die sich aus einer geistig meditativen Handlung erklären, lassen sich heute finden, wo der Werkstoff Glas in der Vielfalt seiner Eigenschaften eine erweiterte Wahrnehmung erfährt – wo das Bewahren der Dinge im Leben und in der Kunst auf einer eher konzeptionellen Ebene verhandelt wird. In der jüngeren Kunstgeschichte für Ansammlungen von Abfallprodukten als Sozialporträts oder davor wegweisend als Hülle für Luft wie in Duchamps Air de Paris von 1919. Fragil und doch sehr hart, begehrenswert schön und doch gefährlich scharfkantig. Die vielen Facetten von Glas beschäftigen seit jeher Künstler:innen aller Genre, die den amorphen Stoff nicht nur als Material verwenden und seine unwirkliche, magische Transparenz festzuhalten suchen.

Es ist das Gedächtnis des Materials, welches an den zumeist farbigen Glasoberflächen und je nach choreografierten Licht und Perspektiven aus dem Inneren reflektiert. Jenseits des Farbauftrags entstehen Spiegelungen und Reflexionen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen - auch für die dargestellte Umgebung und den Raum. Etymologisch betrachtet bedeutet gläsern, durchsichtig, transparent, glasklar oder auch glasartig. Im übertragenen Sinne wird damit auch ein leerer Blick oder die Offenlegung bestimmter (gesellschaftspolitischer) Zusammenhänge beschrieben. Dabei stellt sich die Frage inwiefern, jeder noch selber entscheiden kann, wie gläsern er sein will. Gleichzeitig denken wir an (kostbare) Gefäße, historisches Kunsthandwerk, Inhalte, aber auch Erinnerungen und die damit verbundenen Spuren und Speicher von zumeist kultureller Historizität.

Die Faszination für das zumeist lichtdurchleuchtete Material entfaltet eine unkontrollierte Aura, verbunden mit einer einmaligen ästhetischen aber auch körperlichen Erfahrung, zwischen Essenz und Existenz. Es ist der Widerschein, der viele vor allem in Verbindung mit sakralen Bauten und den dort zumeist farbiger Glasmalerei kennen. Hier kann die Brücke zu zeitgenössischen künstlerischen Medien und ihrer Wiederbelebung geschlagen werden – zu Malereien, skupturalen Formen, Film, Raumzeichnungen oder Schriftbilder, die nicht nur formal als Erweiterung der klassischen Bildhauerei betrachtet werden können. Ihre gestalterische Entwicklung und technische Machbarkeit ermöglicht seit dem "Gläsernen Menschen" in den 30-er Jahren und damit der Beginn für die Auseinandersetzung auch aus künstlerischer Perspektive, Varianten über die vertraute vor allem funktionale material-ikonografische Vielfalt hinaus. Glas ist mehr: Zwischen ästhetischen Formgebungen und Gestaltung reflektieren die Künstler:innen der Ausstellung über Hintergründe, Ressourcen und veränderte Produktionsbedingungen. Die Welt ist gläsern geworden – die Wirklichkeit zum Kaleidoskop. Es sind vor allem Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse über die kulturellen Dinge im Leben und in der Kunst, denen wir in der „neuen Normalität“ mit verstärkten Impulsen für (gesellschaftliche) Transparenz begegnen – und diese gleichzeitig mit anderen (auf)klärenden Inhalten anstreben, weil nicht nur aus Brüchen oder auch Scherben Neues entsteht, sondern auch „gläserne Decken“ verschwinden.

Die Bewunderung ist geblieben. Ende 2023 hat die UNESCO die manuelle Glasfertigung zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt.

Carsten Becker

Mit fotokünstlerischen Mitteln eröffnet Becker nicht nur einen Raum von Interpretationsvarianten, sondern hinterfragt zugleich den Anspruch und die Erwartungen an das abbildende Medium, so auch in den ikonographisch aufgeladenen Kompositionen der uns nur auf den ersten Blick vertrauten Objekte. Nach einem ersten Blick auf die ungewöhnliche und geheimnisvoll anmutende Zusammenstellung funktionaler Alltagsgegenstände, meist Flaschen, stellt sich die Frage nach der Deutung und Bedeutung dieser skulptural inszenierten, ungewöhnlich farbigen Glasobjekte. Carsten Beckers nüchterne Variationen von Stillleben sind auf Form und Farbe reduziert und entwickeln über die glanzlose Oberfläche ein spekulatives Narrativ auch über Materialität, Zugehörigkeiten und das künstlerische Medium selbst: Es ist die Darstellung der Skulptur, die sich aus der Dreidimensionalität löst. Es entstehen skulpturale Bilder oder bildhafte Skulpturen. Beckers konzeptuelle Fotografien sind kühl inszenierte Kombinationen von DIN-Normen mit RAL Farben. Die ehemals genormten Gefäße erinnern nicht unbedingt an die Geschichte der Normierung, des Industrie- und Produktdesigns, sondern verweisen in der Gegenwart auf zeitgeschichtliche und gesellschaftspolitische Zusammenhänge. Formen und Farben sind bei Becker nicht universell und unpolitisch, sondern Teil der visuellen, sozialen und politischen (nationalsozialistischen) Verstrickungen, die später als Vichy-Form im Alltag und Kollektiv wieder auftauchen.

Foto: Eric Tschernow