Homeostasis

Der erste Raum im Fundament eines Berliner Altbaus – ein funkelnder Psychedelic Funk–Dschungel: Ein Jaguar und ein Polizeihund bewachen einen selbstgebrannten Schatz, der Arbeitspuls eines Großstadtcowboys pulsiert, ein Wasserfall entledigt sich codierter Messages und ein schwarz gefliestes Wandstück macht zumindest auf einer Fläche urbane Desinfektion möglich. Der zweite Raum führt in die Dunkelheit: Die Wandelnden treffen auf obskure Maskenköpfe aus brünetten, synthetischen Haarzöpfen; auf deutsche Land ser, die nasse Pferde-Mähnen striegeln und auf amorphe Volumina auf heller Leinwand, welche von einem sehr tiefen Anthrazit bis ins Glanz-Weiß changieren.
Es ist wohl eindeutig, dass hier eher subrationale Räume eröffnet werden. Einmal los gelöst von Logik und direkter Übersetzbarkeit, rücken Assoziationen, Erinnerungen und Traumsequenzen in den Vordergrund, seit jeher Stammgebiet der Kunst. Die Ausstellung adressiert Einschreibungen in die Körper und Wesen der Menschen, welche diesen viel leicht nicht vollständig bewusst sein mögen, aber mit dem richtigen perzeptiven Auslöser Klang in ihnen erzeugen. Laut der Genealogie schreiben sich beispielsweise die Erfahrun gen unserer Vorfahren über mindestens vier Generationen in unsere Stammzellen ein.
Neuronale Homöostase (engl.: Homeostasis) – der Spannungsausgleich im einzelnen Körper – die Nervenzellen schicken ihre elektrischen Impulse in einem eingegrenzten Spannungsniveau durch das neuronale Netz. Wird dieses Spannungsniveau körperweit unterschritten oder überschritten fällt der Organismus aus. Daher existieren interne Rege lungen in den Zellen um dieses Spannungsniveau im Körper aufrecht zu erhalten. Dieses inhärente Bestreben wird als neuronale Homöostase bezeichnet.
Sozialkulturelle Homöostase – die kollektiven Spannungsentladungen in der Gesellschaft – die Körper sind durch Austausch verbunden und bauen durch soziale Konditionierung kollektive Spannungsüberschüsse auf. Diese Überspannungen werden in diverse Aktionen entladen – seien es mannigfaltigen Aktivitäten im Alltag des Einzelnen oder große gesell schaftliche Umbrüche, welche viele betreffen. Für diesen Fluss der kollektiven Ladungen, erfährt die subjektive „Homöostase eine Erweiterung in die soziokulturelle Sphäre. Bei spiele für diese neuen Mittel der Regulation sind Justizsysteme, wirtschaftliche und politische Organisationen, Künste, Medizin und Technologie“.1 Die Sozialkulturelle Homöostase gewährleistet paradoxerweise nicht nur die Stabilität sozialer Systeme sondern auch ihre ständige Wandlung, weshalb Niklas Luhmann, Francisco Varela und andere Soziologen dafür plädiert haben, Homöostase durch den Begriff der Homöodynamik zu ersetzen.
Gerade im Souterrain dieser Stadt wird bewusst oder unterbewusst nach ein bisschen Ausgleich gesucht, werden die Zwänge der transluzenten Oberwelt mit Hingabe in den Untergrund-Clubs, Hobbykellern, Werkstätten, Pumper-Buden,Devotionalien-Schreinen, Waffen-Lagern, Wellness-Katakomben und den Studios für Musik, Tattoo, Massage und körperliche Liebe abgeleitet. Durch die Spannungsüberschüsse unserer gesellschaftlichen Zwänge sind also libertäre Aktivitäten und obskure Rituale entstanden und unter den Sedimenten des durchrationalisierten Systemvollzugs konnten traumwandlerische Land schaften auf gedeihen.
Homeostasis greift bildnerische Arbeiten auf, welche diese untergründigen und teils subversiven Strömungen unserer Gemeinschaft aufnehmen und inhaltlich und ästhetisch reflektieren. Die Arbeiten bilden sozusagen als kreative Meta-Ebene die tiefgreifenden Erdungen der kollektiven Homöodynamik in der Gemeinschaft dieser Stadt ab.
Stephan Klee
Footnotes
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Antonio Damasio: Self comes to mind. Constructing the Conscious Brain, NY 2010, S. 38f ↩